Erste Gruppe im Projekt „Sichtbar Handeln! Umgehen mit Antisemitismus in Jugend- und Bildungsarbeit“ auf Begegnungsreise
Was noch vor wenigen Monaten fast undenkbar schien, konnte Anfang April 2022 nach vorfreudigem Warten und intensiver Vorbereitung endlich realisiert werden: Begleitet von ConAct startete im Rahmen des Diskursprojektes „Sichtbar Handeln! Umgehen mit Antisemitismus in Jugend- und Bildungsarbeit“ am 4. April die erste Begegnungsreise nach Israel. Die 7-tägige Reise mit dem Schwerpunkt auf persönlichem Austausch ist fester Bestandteil des zweiteiligen Diskursprojektes und war für die Mehrzahl der 18 Fachkräfte aus Kinder- und Jugendhilfe ein erster Besuch im Land.
In einem ersten Modul hatten die Teilnehmenden bereits Fortbildungen absolviert, die sich mit der Geschichte und Gegenwart von Antisemitismus in Deutschland sowie pädagogischen Gegenstrategien auseinandersetzten. Auf der nun folgenden Reise konnte die Gruppe eine Vielzahl von unmittelbaren Einblicken in Israels Geschichte und Gesellschaft gewinnen. Die Verbindung von Bildung in Deutschland und Begegnung mit Israel zielt darauf ab, die Sicherheit der Fachkräfte im Umgehen mit Antisemitismus und Israelfeindschaft zu stärken.
Begegnungen mit der israelischen Jugend in Tel Aviv, Akko und Peki’in
Die Begegnungsreise wurde in Kooperation mit dem Council of Youth Movements in Israel (CYMI) geplant und durchgeführt. Dies ermöglichte den Teilnehmenden spannende Einblicke in die vielfältige Landschaft der israelischen Jugendgruppen und -verbände und ihre Bedeutung für die israelische Gesellschaft. „Warum hast du dich für einen Freiwilligendienst entschieden?“, „Was zeichnet deine Jugendbewegung aus?“ „Welche Aktivitäten macht ihr mit den Jugendlichen“ und „Freust du dich auf den anstehenden Armeedienst?“ waren nur einige der vielen Fragen, die die Fachkräfte aus Deutschland den jungen Israelis stellten. So entstand zwischen den Projektteilnehmenden und den Schinschinim (Freiwilligendienstleistende) von HaMaccabi HaTzair[1] in Tel Aviv und HaNo’ar HaOved veHaLomed[2] in Akko ein anregender und sehr persönlicher Dialog. Die jungen Erwachsenen sprachen über ihre Motivation, Teil der Jugendbewegung zu werden, über die Inhalte des Engagements und ihre persönlichen Zukunftsperspektiven. Beim Besuch der drusischen Jugendbewegung in Peki’in erhielten die Teilnehmenden einen Einblick in die drusische Community, die als ethnische Minderheit etwa 1,6% der israelischen Bevölkerung ausmacht. Weitere Innensichten in den israelischen Alltag boten die jungen Menschen der Jugendbewegung HaBonim Dror, die die Gruppe bei einem gemeinsamen Essen in die Tradition(en) und Rituale des Schabbats einführten und damit das Wochenende einläuteten.
Geschichte(n) vor Ort erkunden
Auf historischen und soziokulturellen Stadtrundgängen durch Tel Aviv, Jerusalem und Akko erliefen sich die Teilnehmenden viele Jahrhunderte Geschichte und bekamen dabei auch einen Eindruck von der aktuellen Lebenswirklichkeit Israels. „Mit Sarah wanderten wir 4.000 Jahre zurück in der Zeit… durch die alten Gassen von Jaffo, vorbei an entwurzelten Orangenbäumen, Sternzeichenschildern, dem Siegestor von Ramses, Katzen, Seeungeheuern im Meer, kleinen Häusern mit roten Dächern in Neve Tzedek, eingehüllt in den Duft von Orangenblüten, einer Nobelpreisgeschichte über unerfüllte Liebe, schlenderten wir über einen Boulevard der gerade eben noch aus Sand bestand hin zum Hügel des Frühlings – Stück für Stück das Wachsen der damaligen Stadt mit unseren Schritten nachzeichnend…“, so schilderte eine Teilnehmerin die Eindrücke vom ersten Tag in Tel Aviv. In Akko wiederum führte Jonathan die Gruppe abseits touristischer Sehenswürdigkeiten durch Wohngebiete und berichtete dort über Chancen und Herausforderungen eines alltäglichen Zusammenlebens von jüdischen, muslimischen und christlichen Israelis in der Stadt.
Erinnerungsarbeit und das Gedenken an die Shoah in Israel
Bei einem Besuch der Begegnungsstätte Beit Ben Yehuda, in dem sich auch das Landesbüro von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in Israel befindet, trafen die Fachkräfte auf Freiwilligendienstleistende sowie Mitglieder des Freundeskreises von ASF. Im Gespräch ging es um die Bedeutung der Arbeit von ASF und die daraus resultierenden persönlichen Beziehungen, die etwa zwischen den deutschen Freiwilligen und Holocaustüberlebenden entstehen. Auch wurde über verschiedene Formen des (gemeinsamen) Erinnerns gesprochen. Hier stand vor allem die Frage nach Zukunftsperspektiven der Erinnerungsarbeit im Vordergrund.
Israel als sicherer Hafen? – Gespräche mit Juden und Jüdinnen aus Europa
In einem Workshop mit der Bildungsreferentin und Publizistin Anita Haviv-Horiner erhielten die Fachkräfte die Möglichkeit, verschiedene Stimmen von Israelis zu hören, die von Europa nach Israel ausgewandert sind. Haviv-Horiner selbst ist aus Österreich nach Israel eingewandert und seit vielen Jahren in der Bildungsarbeit tätig. Besonders eindrücklich waren die sehr persönlichen Einblicke in die Lebensgeschichten, die die Gesprächspartner*innen der Gruppe gewährten: „Ich kann noch so viele Geschichtsbücher lesen – wenn ich Menschen und ihre Geschichten kennenlerne, fange ich an zu begreifen“, reflektierte ein Teilnehmender sein Erleben der Begegnung. Die ganz unterschiedlichen Antworten, die die Israelis hier auf Fragen nach Identität, Lebenseinstellung und Zukunftsperspektiven fanden, machten die Diversität der israelischen Gesellschaft noch einmal besonders deutlich.
Zwischen Konflikt, Koexistenz und der Sicherheit Israels
Sowohl das friedliche Zusammenleben als auch der schwelende Nahostkonflikt wurden während der Reise durch Israel spürbar. Von Akko im Norden bis an die Grenze zum Gazastreifen lernten die Fachkräfte Menschen kennen, die sich für ein Leben in Sicherheit und Frieden diesseits und jenseits der Grenzen Israels einsetzen. Die schwierige und bedrückende Realität eines Alltags in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen wurde allen bei einem Besuch im Moshav Netiv HaAsara deutlich. Das Projekt „Path to Peace“, das einen Teil der grauen Mauer zum Gazastreifen mit Friedensbotschaften bestückte, zeigte, dass die Menschen trotz allem die Hoffnung auf ein Ende des Konflikts nicht aufgeben.
Die Tatsache, dass Gewalt und Terror noch immer ein trauriger Teil der israelischen Realität sind, machte ein Anschlag im Stadtzentrum Tel Avivs am 7. April 2022 deutlich. Er forderte drei Menschenleben und ließ die Bevölkerung in Trauer und Angst zurück. Auch die Gruppe war geschockt von den Ereignissen und fand in gemeinsamen Gesprächen die Möglichkeit, ihren Gefühlen, Fragen und Unsicherheiten Ausdruck zu verleihen. Doch auch die schnelle Rückkehr in den Alltag, die das Leben in Israel einfordert, wurde den Fachkräften hier bewusst – nicht zuletzt als Zeichen dafür, dass der Terror nicht das Leben bestimmen darf.
Nach einer Woche voller Eindrücke, spannender Begegnungen und gemeinsamer Erkundungen in Israel resümiert eine Teilnehmerin:
„Ein kleines Land mit so vielen unterschiedlichen Menschen, Meinungen und Biographien. Lebenslust und Geschichte treffen hier für mich aufeinander. Auch wenn die Grenzen manchmal unklar sind, spüre ich, dass die Hoffnung der Israelis grenzenlos ist. Toda, dass wir hier sein durften!“
Mit der Begegnungsreise startete ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-israelischer Jugendaustausch in ein aktives Austauschjahr. Drei weitere Reisen nach Israel sollen 2022 noch realisiert werden. Sie sind eine der ersten Programme im deutsch-israelischen Austauschkontext, die endlich wieder vor Ort stattfinden können.
[1] Die „Maccabi Jugendbewegung“ ist ein israelischer Jugendverband.
[2] „Die Föderation der arbeitenden und studierenden Jugend“, kurz: NOAL, ist ein israelischer Jugendverband.