Allgemein, Einblicke

„Geschichte so zu begreifen, war mein persönlicher Ansatz“

Die letzte Begegnungsreise 2022 im Projekt „Sichtbar Handeln! Umgehen mit Antisemitismus in Jugend- und Bildungsarbeit“ – das von ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch realisiert wird – führte im September weitere Teilnehmende des Diskursprojekts nach Israel. Zuvor hatten sie sich in den einführenden Bausteinen von „Sichtbar Handeln!“ bereits mit Geschichte und Gegenwart von Antisemitismus, seinen Erscheinungsformen und pädagogischen Gegenstrategien auseinandergesetzt.

Dieser Beitrag versammelt beispielhaft Eindrücke von vier Programmpunkten während der einwöchigen Bildungs- und Begegnungsreise nach Israel. Dabei wird den Teilnehmenden über die Schulter geschaut: Sie kommen selbst zu Wort und teilen ihre Gedanken. Durch ihre Augen werden facettenreiche Einblicke in eine vielfältige Gesellschaft möglich.

Zum Auftakt in Haifa erhielten die Teilnehmenden eine Stadtführung, die anhand des besonderen Charakters der Stadt die Möglichkeit zur Koexistenz der vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Israel erläutert. Auch trafen sie Vertreter*innen zweier Jugendbewegungen, einer jüdisch-säkularen und einer arabischen. Auf den Austausch mit ihren israelischen Fachkolleg*innen folgte zudem ein Blick in deren praktische Arbeit.

Besonders aufgefallen ist mir die Begeisterungsfähigkeit der jungen Menschen für die ehrenamtliche Jugendarbeit. Mit welcher Energie und Motivation sie ihre Communities zum Besseren verändern möchten, beeindruckt sehr. Statt sich mit „coolen“ Themen zu beschäftigen, investieren die jungen Leute ihre Zeit um Werte wie Frieden und Demokratie stark zu machen. Den Jugendlichen wird schon früh Verantwortung übertragen, was sie wachsen lässt und langfristig prägt. Auch mit 16 Jahren ist man nicht zu jung, um eine Gruppe zu leiten, wie wertvoll! So investiert eine Generation immer in die nächste und die nächste und die nächste.

Doralisa

In Haifa fand ich vor allem sehr inspirierend, dass wir Vertreter*innen von einer zionistischen und einer arabischen Jugendorganisation getroffen haben, die trotz ihrer Unterschiede eng zusammenarbeiten, unter anderem weil sie der Kampf gegen ökonomische Ungerechtigkeiten verbindet. Man merkt, dass solche Kooperationen aufgrund interner und institutioneller Widerstände nicht selbstverständlich sind. Umso beeindruckender ist der kontinuierliche Versuch dieser jungen Menschen, ihre Gegenüber nicht als Jüdinnen*Juden, Muslim*innen, Araber*innen, Palästinenser*innen, Israelis oder Zionist*innen, sondern in erster Linie als Menschen wahrzunehmen. Das erlaubt ihnen unabhängig von religiösen und politischen [Einstellungen] Verständnis für die Herausforderungen im Leben der Anderen aufzubauen.

Dominik

Dass es von der Jugend auf freiwilliger Basis geschieht, ist super interessant. Da sehe ich zum Teil meine eigene Arbeitsweise darin wieder. Ich selber schaue immer nach Möglichkeiten, wie die Kinder und Jugendlichen sich gegenseitig etwas beibringen und/oder zusammen veranstalten/erleben oder auch Situationen zusammen meistern etc.

Ramon

Nach diesem Auftakt im Norden Israels begaben sich die Teilnehmenden nach Jerusalem. Auch in dieser Stadt mit ihrer jahrtausendealten Geschichte durchmaßen sie Raum und Zeit bei einer Tour durch die Altstadt. Im Anschluss tauschten sich die pädagogischen Fachkräfte aus Deutschland mit der seit Jahren in Jerusalem lebenden Stadtführerin dazu aus, was die moderne Jerusalemer Stadtgesellschaft ausmacht und welche Herausforderungen auf politischer und sozialer Ebene bestehen.

Die Komplexität Jerusalems zu fassen, scheint mir eine unendliche Angelegenheit zu sein. Dennoch hat es mich tief beeindruckt mit wie viel Pragmatismus und Geduld der Alltag in dieser Stadt scheinbar begangen wird.

Katharina

Kurz vor dem Abendessen erzählt unser Guide noch von ihrer persönlichen Erfahrung, in Jerusalem zu leben. Für mich bleiben davon vor allem zwei Erkenntnisse: erstens wohnt den meisten Jerusalemern eine (religiöse) Leidenschaft für diesen Ort inne, selbst wenn es nicht die ideologische Motivation ist, die die Bewohnerinnen der Altstadt motiviert. Zweitens sind die Unterschiede innerhalb der jüdischen Gesellschaft sehr groß. Jüdinnen und Juden sind eben keine homogene Gruppe.

Dominik

Ein zentraler Programmpunkt widmete sich der Erinnerung an die Shoah. So besuchten die Teilnehmenden die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem. Nach einem Rundgang durch die Ausstellung gingen sie über das Außengelände, wo sich an den einzelnen Monumenten die Entwicklung der Gedenkkultur in Israel über mehrere Jahrzehnte ablesen lässt.

Teilnehmnde betrachten Steine im Yad Vashem
© ConAct

An Yad Vashem beeindruckt mich neben vielen Aspekten vor allem die Architektur. Der Tunnelbau durch den Mount Herzl, in dem sich die Hauptausstellung befindet, reflektiert in mehrerlei Hinsicht die Botschaften der Gedenkstätte. Er schneidet durch den Berg und hinterlässt eine Wunde im Land Israel – so wie der Holocaust eine Wunde [im] jüdischen Volk hinterlassen hat. Im Inneren gibt es zunächst Teppichboden, der mit Beginn der eigentlichen Ausstellung von hartem, kalten Beton abgelöst wird. Erst am Ende der Ausstellung, bei der Staatsgründung Israels, verlässt die Besucherin den Beton und läuft auf Teppichboden zum Ausgang.

Dominik

Unser Guide hat spannende Perspektiven, politische Analysen und historische Fakten gekonnt vermittelt und immer wieder Raum für Fragen gelassen. Der Ort hat mich emotional sehr berührt und nachdenklich gemacht. Die israelische Erinnerungskultur und ihre Veränderungen und Prozesse zu sehen, war für mich sehr wichtig und beeindruckend.

Katharina

Ein Programmpunkt, von dem ich nicht genau wusste, wie er sich gestalten wird … Wird es Neues geben? Wie fühlt es sich an, von Israelis durch das Thema geführt zu werden? … der unausweichliche und absteigende Pfad, und die Masse an Dokumenten, Fotos oder Schriften waren so bedrückend wie auch sehenswert für mich! … irgendwann, kurz vor dem tiefsten Punkt der Ausstellung, fühlte ich auch das unausweichliche, wie es die Ausstellung darstellen sollte, und das war wirklich ein krasses Erlebnis.

Ramon

Mit einer Vielzahl an wichtigen Eindrücken kehrten die Teilnehmer*innen zurück nach Tel Aviv. Die zahlreichen Erlebnisse und neuen Erkenntnisse müssen verarbeitet und eingeordnet werden. Dies geschieht in verschiedenen Reflexionsrunden, mal alleine, mal zu zweit, mal in größeren Gruppen.

In Tel Aviv erlebten sie einen besonderen Workshop mit dem Titel „Israel als sicherer Hafen?“ Anita Haviv-Horiner, die 1979 aus Wien emigriert ist, diskutierte mit Dana und Jan, aus welchen Gründen sich Jüdinnen und Juden aus aller Welt entschließen, nach Israel auszuwandern und was das Land für diese Menschen bedeuten kann.

Teilnehmende sitzten in einem Stuhlkreis in einem Seminarraum.
© ConAct

Morgens tauschen wir uns im Hotel mit drei eingewandert Israelis dazu aus, ob Israel ein sicherer Hafen für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt ist. Besonders beeindruckt mich die Geschichte von Jan. Nach seinem Birthright-Trip wollte er seine eigene Herkunft mehr erkunden. Dabei stellte er fest, dass er sich als Jude und schwuler Mann in Israel so wohl fühlt, dass er sich nicht mehr vorstellen kann, irgendwo anders auf der Welt zu leben. Dana glaubt, dass Israel vor allem in Bezug auf das jüdische Kollektiv als sicherer Hafen gelten kann, weil es der einzige Ort der Welt ist, an dem man [sich] als Jüdin ganz selbstverständlicherweise zugehörig fühlt. Schlussendlich können sich alle drei unserer Gesprächspartner*innen darauf einigen, mehr mit den Menschen als mit dem Land verbunden zu sein. Gleichzeitig hätten Juden und Juden aus verschiedenen Weltregionen sehr unterschiedliche Hürden bei der Einwanderung und Integration in die israelische Gesellschaft zu nehmen.

Dominik

Dies sind Ausschnitte der Begegnungen und Gespräche, die die Gruppe um Katharina, Doralisa, Dominik und Ramon innerhalb von sieben Tagen in Israel erlebt hat. Einig sind sich alle Teilnehmenden, nun ein differenzierteres Bild von Israel zu haben. Nachdem sie nicht nur die gesellschaftliche Vielfalt, sondern auch die Perspektiven und Bedürfnisse der Menschen im Land kennengelernt haben.

Weitere Berichte von den Begegnungsreisen nach Israel lesen