Allgemein, Einblicke

 „Sichtbar Handeln! Gegen Antisemitismus.“ on tour in Israel 2023

Komplexe israelische Lebenswirklichkeiten wahrnehmen und durch vielfältige Begegnungen neue Perspektiven gewinnen

Mit dem bundesweiten Diskursprojekt „Sichtbar Handeln! Gegen Antisemitismus.“ sensibilisiert und stärkt ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch Fachkräfte aus der außerschulischen Jugend- und Bildungsarbeit im Erkennen und Umgang mit Antisemitismus. Auf eine Bildungswoche zur Geschichte und Aktualität von Antisemitismus folgte als weiterer fester Bestandteil des Diskursprojekts im September 2023 für mehr als 20 Teilnehmende die Begegnungsreise nach Israel.

Nach einem Auftaktseminar in Berlin machen wir uns auf den Weg nach Israel. In den Köpfen klingen die Fragen und Eindrücke nach, die die gestrige Vorbereitungseinheit hervorgebracht hat. Werden unsere Erwartungen erfüllt, Einblicke in verschiedene israelische Lebenswelten, die politische Landschaft und die praktische Arbeit der israelischen Jugendbewegungen zu bekommen? Gestern haben wir zudem in einem Einführungsvortrag anhand von Karikaturen aus israelischen Zeitungen eine erste Ahnung davon bekommen, dass gesellschaftliche Gemengelagen und Konfliktlinien vielschichtiger und komplizierter sind als bisher angenommen. Werden wir zum Beispiel Unterschiede zwischen Aschkenasim und Mizrachim[1] wahrnehmen können? Welche Rolle spielt Religion im Leben der Menschen, die wir treffen werden?

Bald nach der Ankunft in Israel treffen wir Vertreter*innen des Council of Youth Movements in Israel (CYMI), des Dachverbands der Jugendbewegungen. Weil die Begegnungsreisen im Diskursprojekt „Sichtbar Handeln! Umgehen mit Antisemitismus in Jugend- und Bildungsarbeit“ gemeinsam mit CYMI organisiert werden, wird die Woche noch weitere Treffen mit deren Mitgliedern bereithalten. Heute erfahren wir zunächst von der langen Geschichte der Jugendbewegungen, von denen die ältesten als zionistisch-sozialistische Bewegungen weit vor der Geburt des Staates Israel in Europa gegründet worden sind. Schnell wird uns klar, dass sich schon anhand der Ausrichtungen der Jugendbewegungen die Vielfalt der israelischen Gesellschaft ablesen lässt. Neben den Pfadfindern gibt es sportlich orientierte, religiöse, arabische und drusische Gruppen.

Besonders beeindruckt uns auch das Engagement ehemaliger Mitglieder von Jugendbewegungen, die sich zu Erwachsenenverbänden zusammengeschlossen haben. Mit viel persönlichem Engagement wirken sie darauf hin, in ihren Nachbarschaften in Haifa und Akko die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenzubringen. So berühren uns die Schilderungen aus Akko, wo nach Unruhen zwischen arabischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen im Jahr 2021 Repräsentant*innen mehrerer Seiten wieder zusammenfanden und Ideen für einen respektvollen Umgang miteinander entwickelten.

Am Freitagabend feiern wir den Beginn des Shabbats mit Jugendlichen, die ein Freiwilligenjahr vor dem obligatorischen Wehrdienst in ihrer Jugendbewegung machen, und lernen beim Besuch bei einer arabischen Gruppe am Samstag, wie sie sich trotz mancher Ablehnung für eine gleichberechtigte und solidarische Gesellschaft einsetzen. Es scheint uns, dass Jugendliche und junge Erwachsene in Israel früher gesellschaftliche Verantwortung übernehmen als in Deutschland. Dazu trägt neben dem Wehrdienst auch die Übertragung von Verantwortung in den Jugendbewegungen bei, die mit dem Motto „Youth educating youth“ umschrieben ist.

Über Verantwortungsübernahme und Selbstorganisation lernen wir auch viel, als wir uns im ehemaligen Wohnhaus des ersten israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion mit den Herausforderungen zur Zeit der Staatsgründung beschäftigen. Als wir im Rahmen eines Workshops selbst Lösungen entwickeln, etwa zu dem Problem, wie man aus dem Nichts eine Verwaltung aufbaut, die Verteidigung des Landes organisiert oder viele hunderttausend Neueinwanderer*innen integriert, wird uns klar, dass die Errichtung des Staates Israel angesichts der großen Hürden eine besondere Leistung darstellt.

Unser Besuch der Internationalen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem ist zweigeteilt: Zuerst machen wir eine mehrstündige Führung durch das Museum, bei der uns Dimensionen der Shoah anhand von Einzelschicksalen nähergebracht werden. Im Anschluss erfahren wir von unserem Guide bei einem Rundgang über das weitläufige Außengelände einiges über die Entwicklung der Erinnerungskultur in Israel. War das Erinnern in den ersten Jahren noch stark daran orientiert, jüdische Wehrhaftigkeit gegen die Verbrechen der Shoah zu betonen, bekamen die vielen Überlebenden, die nach 1945 nach Israel emigriert waren, mit der fortschreitenden Etablierung des Staates und angestoßen durch den Eichmann-Prozess 1961 allmählich mehr Anerkennung. Wir stellen fest, dass die Erinnerung an die Shoah eine wichtige Bedeutung für das israelische Selbstverständnis hat.

Welche Bedeutung hat der Staat Israel für Jüdinnen und Juden weltweit? Was bedeutet er für jene, die sich entschließen beispielsweise aus Europa nach Israel zu emigrieren? Diese und weitere Frage können wir drei Frauen bei dem Workshop „Israel als sicherer Hafen?“ stellen. So verschieden die Gesprächspartnerinnen sind, so unterschiedlich waren auch ihre Motivationen Alija zu machen, das heißt nach Israel auszuwandern. Schutz vor Antisemitismus und der Wunsch, die eigene jüdische Identität ohne Einschränkungen leben zu können, waren nur zwei der Motive. Nicht zuletzt erfahren wir, wie fruchtbar der Ansatz des biografischen Arbeitens auch für den deutsch-israelischen Kontext ist.

Nach einer Woche voller Eindrücke, deren Verarbeitung noch einige Zeit brauchen wird, beseelt von dem Gefühl, Einblicke in die vielfältige israelische Gesellschaft gewonnen zu haben, und mit unzähligen neuen Fragen im Gepäck landen wir wieder in Deutschland. Viele von uns sind sich sicher, dass sie undifferenzierten Abwertungen Israels nun kompetenter entgegentreten können. Gleichzeitig durften wir auch erleben, dass echte Begegnungen, wie wir sie mit ganz verschiedenen Menschen in Israel hatten, ein wichtiges und wirksames Mittel in der politischen Bildung und im Engagement gegen Vorurteile sind.


[1]

Ashkenaz, das mittelalterliche hebräische Wort für Deutschland, meint die aus Europa eingewanderten Jüd*innen.

Mizrachim, von der hebräischen Wortbedeutung – aus dem Osten/östlich, bezieht sich auf die Jüd*innen aus dem Mittelmeerraum, arabischen Ländern nach Israel eingewanderten Jüd*innen.

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