Allgemein, Einblicke

„Nichts zu tun ist keine Möglichkeit“ – Antisemitismus sichtbar entgegentreten

Mit dem bundesweiten Diskursprojekt „Sichtbar Handeln! Gegen Antisemitismus“ sensibilisiert und stärkt ConAct Fachkräfte aus der außerschulischen Jugend- und Bildungsarbeit im Erkennen und Umgang mit Antisemitismus. Vom 26. bis zum 30. Juni tauschten sich 20 Teilnehmende in Wuppertal in Vorträgen und methodischen Workshops über die Geschichte, heutige Erscheinungsformen und Funktionen von Antisemitismus aus und erprobten pädagogische Handlungsstrategien. Als weiterer fester Bestandteil des Diskursprojekts wird die Seminargruppe im Oktober 2023 auf einer Begegnungsreise gemeinsam Israel erkunden.

Gemeinsam Lernen: Auseinandersetzung mit antijüdischen Mythen und antisemitischen Weltbildern

Antisemitismus wurde über die Seminarwoche hinweg als ein gesamtgesellschaftliches Problem herausgearbeitet, das sich in verschiedenen Erscheinungsformen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen manifestiert und zugleich fest in deren Mitte verankert ist. Eindrücklich verdeutlichte der einführende Impuls von ADIRA (Antidiskriminierungsberatung und Intervention bei Antisemitismus und Rassismus) aus Dortmund die derzeitige Wahrnehmungsdiskrepanz in Bezug auf Antisemitismus in Deutschland, indem zwei Zahlen einander gegenübergestellt wurden: rund Dreiviertel der nichtjüdischen Gesellschaft halten demnach Antisemitismus für ein geringes Problem, während ca. 85 % der jüdischen Bevölkerung in Deutschland Antisemitismus als ein großes oder sehr großes Problem benennen.

„Die antisemitischen Bilder und Stereotype zeigen für mich das Widersprüchliche und Paradoxe am Antisemitismus, das kennzeichnend zu sein scheint. Juden und Jüdinnen wurden und werden für die unterschiedlichsten Probleme verantwortlich gemacht.“

Teilnehmer*in des Diskursprojekts

Wichtiger Teil des Lernprozesses sind Diskussions- und Reflexionseinheiten: Wo begegnen uns im eigenen (Arbeits-)Alltag antisemitische Bilder und Welterklärungsmuster? Welche Funktion haben sie? Wie können pädagogische Fachkräfte mit der eigenen Sozialisation umgehen, um im Umgang mit Antisemitismus gestärkt und authentisch auf Jugendliche zu wirken?

„Antisemitismus nimmt Menschen die Aufgabe der Selbstreflexion ab, indem vermeintlich alles mit der Schuld von Juden und Jüdinnen erklärt wird.“

Teilnehmer*in des Diskursprojekts

Erinnern und Begegnen: Vielfalt Jüdischen Lebens gestern und heute

Neben der Analyse und Dekonstruktion falscher Vorstellungen war das Kennenlernen tatsächlicher jüdischer Lebensrealitäten, Identitäten und Perspektiven wichtig. In einem Workshop mit SABRA (Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus) aus Düsseldorf konnten die Teilnehmenden über die Arbeit mit filmischen Interviews Jüdinnen und Juden unterschiedlicher religiöser Auffassung, Alter und Bezug zum Staat Israel kennenlernen – mit allen scheinbaren Widersprüchen. Daran anknüpfend diskutierte die Gruppe, wie pädagogische Fachkräfte mit Jugendlichen über jüdisches Leben sprechen können und Stereotype vermeiden.

Die „Begegnungsstätte Alte Synagoge“ in Wuppertal erinnert seit 1994 als Gedenkstätte an die Opfer des Nationalsozialismus. Bis zum Novemberpogrom von 1938 stand dort im Stadtteil Elberfeld die Synagoge. Heute erschließt eine interaktive Ausstellung jüdische Geschichte im Bergischen Land. In kleinen Schubladen, hinter Klappen und Türen gaben Dokumente und Fotografien der Seminargruppe einen Eindruck von Lebenswelten, Biografien und Verfolgungserfahrungen. Die Pädagog*innen tauschten sich anschließend über die Erinnerungskultur in Deutschland aus, den Mechanismus der „Schuldabwehr“ und wie sie dieser spezifischen Form des Antisemitismus begegnen können.

„Esther Bejarano hat mal gesagt, dass die junge Generation keine Schuld trägt für die Verbrechen während des Nationalsozialismus. Aber sie trägt Verantwortung! Das finde ich auch. Es ist unsere Verantwortung, unsere Demokratie wehrhaft zu verteidigen, uns für Minderheiten einzusetzen.“

Teilnehmer*in des Diskursprojekts

„Wir“ und „die Juden“: Selbst- und Gemeinschaftsbilder im Antisemitismus

In vertiefenden Workshops mit Pädagog*innen aus Köln oder dem Verein „Bildung in Widerspruch“ wurde hervorgehoben, dass Bildungsarbeit ebenfalls die Aufgabe hat, die Funktion von Gemeinschafts-, Selbst- und Fremdbildern im Antisemitismus zu thematisieren. Im Mittelpunkt der Diskussion stand, wie antisemitische Einstellungen Gesellschaften fiktiv in Selbst- und Fremdbilder strukturieren. Das heißt, wie durch solche Einstellungen eine Unterscheidung zwischen einem konstruierten ‚Wir‘ und einem als nicht-dazugehörig gedachten Fremden gebildet wird.

Dieser Vorgang des Übertragens wurde den Teilnehmenden auch in Bezug auf die weit verbreitete Form des israelbezogenen Antisemitismus deutlich. Dabei werden inzwischen vertraute antisemitische Stereotype und Motive in direkte Verbindung mit Israel gesetzt. In diesem Zusammenhang diskutierte die Seminargruppe auch Unsicherheiten, Vermischungen mit anderen Erscheinungsformen und Opferkonkurrenzen.

„Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus ist es wichtig, nach den Funktionen dahinter zu fragen und nicht nur darum, das antisemitische Stereotyp auf der Oberfläche zu dekonstruieren“

Referent*in eines Workshops im Diskursprojekt

Gemeinsam Handeln: „Nichts zu tun ist keine Möglichkeit“

Im Laufe der Seminarwoche stand wiederholt im Mittelpunkt, wie wichtig es ist, Haltung gegen diskriminierendes Verhalten zu beziehen. Anhand verschiedener Situationen aus dem pädagogischen Arbeitsalltag konnten die Teilnehmenden Handlungsoptionen erarbeiten und ausprobieren.

„Betroffenenschutz muss immer vorgehen. Ich muss in meinem pädagogischen Raum immer davon ausgehen, dass (potenziell) Betroffene anwesend sind und muss mein Handeln daran orientieren.“

Teilnehmer*in des Diskursprojekts